Fördermegatrend «Künstlernachlässe»
Dieses Thema geht uns alle an und nicht nur die Stiftungen, die Philanthropinnen oder die Kunstsammler. Denn als Steuerzahler sind wir alle an der Ausbildung unserer Kunstschaffenden indirekt beteiligt, und als Bürger sind wir irgendwie Miteigentümer der Kunstsammlungen im Besitz von Bund, Kantonen und Städten und sogar der Schweizerischen Nationalbank. Zunehmend treten auch die Nachlässe oder Vorlässe der Künstlerinnen und Künstler ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit – und sowieso in den Fokus der Förderinstitutionen. Sie sind immer öfter Empfänger von Fördergesuchen für Nachlassaufarbeitungen.
Künstlernachlässe im Kunst- und Förderbetrieb
Bei diesem vielschichtigen Thema weiss ich gar nicht, wo ich anfangen soll. Beginnen wir am Ende: Im vergangenen September wurde die Gründung der Interessengemeinschaft Künstler*innen-Nachlass-Initiativen (IG KNI) bekannt. Diese vertritt sieben Nachlasshalter und Nachlassinstitutionen in der deutschen und französischen Schweiz. Die IG KNI ist Ergänzung und Partnerin der Schweizerischen Beratungsstelle für Künstlernachlässe beim Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft SIK. Diese wurde vor drei Jahren auf Initiative des Arbeitskreises Kultur von SwissFoundations durch vier Förderstiftungen ins Leben gerufen, nachdem das Bundesamt für Kultur zuvor kein Interesse an diesem wichtigen Thema gezeigt hatte. Während sich das SIK auf die Beratung von Kunstschaffenden und deren Erben konzentriert (und dabei monatlich mehrere Dutzend Anfragen erhält), beschäftigen sich die IG KNI resp. deren Mitglieder mit dem anforderungsreichen Thema der Sicherung, Lagerung, Vermittlung und allenfalls Weiterverwendung der ihr anvertrauten Künstlernachlässe.
Wer in Künstlerkreisen unterwegs ist, der spürt wie omnipräsent die Frage ist, wie dereinst mit dem hinterlassenen Gesamtwerk eines Künstlers oder einer Künstlerin umgegangen werden soll. Ohne weiteres kann ein solcher Künstlernachlass Hunderte bis Tausende von Werken umfassen: Gemälde, Gipse, Grafiken etc. Es stapeln und stauen sich diese Konvolute in den Künstlerateliers oder in den behelfsmässig bezogenen Depots. Gesamtoeuvres sind meist sperrig. Und ebenso oft sind sie eine Belastung für den alternden Künstler, der sich fragt, was mit seinem Werk nach seinem Tod geschehen soll. Ist dieser dann eingetreten, kann die Belastung auch zum Ballast werden, zum Problem der Hinterbliebenen und Erben. Ehrendes Gedenken kann dann bald in multiple Überforderung münden: fachlich, logistisch, finanziell. Und emotional! „Umgang mit Künstlernachlässen“ (so lautet übrigens ein Ratgeberbuch des SIK von 2017) hat auch eminent psychologische und soziale Aspekte.
Nicht alle Künstler resp. deren hinterlassenen Oeuvres haben die Chance, in mehr oder weniger gesichertem institutionellem Rahmen weiterleben zu können, wie ihn etwa Stiftungen oder Vereine bieten können. Ich erwähne das Werk des Buchillustratoren Böhmer (1911-1986) in einer öffentlich-rechtlichen Stiftung an seinem ehemaligen Wohnort Collina d’Oro TI, das Werk der Malerin Hanni Fries (1918-2009) in einer privatrechtlichen Stiftung in Zürich oder beispielsweise den Fall des Malers Jakob Strasser in Rheinfelden, dessen Werk durch einen ihm gewidmeten Verein vollständig aufgearbeitet wurde. Einen etwas anders gelagerten Fall markiert der Bildhauer Hans Josephson (1920-2012), dessen „estate“ von der renommierten Galerie Hauser & Wirth in Zürich übernommen wurde und nun durch diese im Rahmen einer neuartigen Estate-Strategie fruktifiziert wird.
Müssen alle Künstlernachlässe für die Nachwelt erhalten werden oder darf Kunst sterben?
Meine Antwort lautet entschieden Jein.
Selbstverständlich können die wenigsten Künstlernachlässe integral erhalten werden. Die Menge an Material eines hinterlassenen Fundus bedarf in den meisten Fällen der Sichtung und der Selektion. Die genannte SIK-Publikation gibt dazu Anleitung. Aussortiertes endgültig zu vernichten (im Neusprech: „entsammeln“) dürfte vielen Nachlassverantwortlichen sehr schwerfallen. „Kunst zu zerstören wäre ein Sakrileg, es dennoch zu tun eine Barbarei“, ist ein verbreitetes Credo in unseren posthistoristischen Zeiten. Erst recht problematisch wäre es dann, gar einen ganzen Künstlernachlass zu entsammeln, nämlich in Mulden zu entsorgen und in der Kehrichtverbrennung zerstören zu lassen. Welcher Aufschrei würde durch die Medien gehen?
Genau diese Probe aufs Exempel machte der Verein RestKunst Basel am 11. November 2018. Im Rahmen des genialen weil der Wahrhaftigkeit verpflichteten Projekts „The Last Show“ organisierten die Kunsthistorikerin Ricarda Gerosa und ihr Team in aller Öffentlichkeit und durch die Medien begleitet eine Entsorgungsaktion für das umfangreiche, genauer: zu umfangreiche und bloss zum kleinsten Teil langzeitarchivierbare Werk des Malers, Bildhauers und Objektkünstlers René Schlittler (*1929). Um Kunstinteressierten vor der geplanten Zerstörung eine letzte Chance zum Erwerb eines Schlittlers zu geben, führte RestKunst im Ausstellungsraum der Visarte Basel als last Show eine Versteigerung des ausgebreiteten Oeuvres durch. Diesem Event – in Anwesenheit des betroffenen Künstlers ernsthaft und würdevoll durchgeführt – wohnte man mit einer Mischung von Verwunderung und Betroffenheit bei. Etliche der ausgestellten Bilder und Skulpturen wurden durch die Anwesenden tatsächlich ersteigert.
Und dann – die anvisierte Entsorgung?? Noch während der Auktion intervenierte eine Frau lautstark und anhaltend: „Kunst kann nicht zerstört werden…“ gegen die Zerstörung des riesigen Konvoluts. Die, welche sich auf diese Weise für Schlittlers Vorlass stark machte, entpuppte sich als Stieftochter des Künstlers. Sie „erbarmte sich“ Schlittlers Werk und versprach dessen Übernahme, um dann dennoch (gewiss überfordert) einen grossen Teil der grossformatigen installativen Plastiken in der Mulde landen zu lassen. Halt einfach im Verborgenen.
PS: Anlässlich der Auktion erwarb ich mir eine Kleinskulptur von René Schlittler. Zu Hause ausgestellt erinnert sie mich täglich daran, dass die Kunst irgendwie doch nicht sterben kann.